Alphabet der feinen Küche

Projekt: Kolumnen und Rezepte für Mosaik bei Goldmann / Was: Text, Rezept

Alle Beiträge zu Hans Gerlachs gleichnamiger Kolumne im Magazin der Süddeutschen Zeitung, ergänzt um viele Rezepte, Leserbriefe und Rätsel – als Ergänzung zu den jeweiligen Texten.


alphabet-der-feinen-kueche-sz-magazin-kolumnen-kochbuch-hans-gerlach-foodundtext 1

Vorwort von Wolfgang Joop

Sehr verehrte Freunde, mit dem Verfasser des Buches, das Sie gerade in Ihren Händen halten, habe ich etwas gemeinsam: Wir kochen ohne Rezept. Ich kann aber nicht anders, Herr Gerlach vielleicht schon. Er hat seine rezeptlosen Rezepte in einem früheren Werk schon mal vorgestellt. Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon. Jedenfalls, wenn Sie Leser seiner Kolumnen im „Magazin der Süddeutschen Zeitung“ waren. Ich selbst koche fast täglich so für mich hin. Mit manchmal überraschendem Ergebnis. Ich habe gelernt, meine Zutaten zu befragen, wie sie behandelt werden wollen und gemeinsam begeben wir uns in eine fast meditative Trance. Aus der ich mürrisch erwache, wenn mich jemand nach dem Thema oder Namen meines Gerichts fragt. („Gericht“ – welch doppelsinniges Wort!) Sollte ich noch mal ein Kochbuch schreiben und es dann den Titel: „Moral mit Morcheln“ tragen wird, werde ich Herrn Gerlach bitten, für mich das Vorwort zu schreiben. Auch deshalb schreibe ich seines.

Und da ich glaube, dass dieser Koch außerdem ein Poet ist, gleicht es einer Schmeichelei für mich, seiner Bitte zu folgen. In einem Brief bat er mich mit lockenden, ja zärtlichen Worten. Zärtliche Worte, das wissen Sie selbst, müssen genau dosiert werden. Nicht etwa das Süßholzraspeln mit seinen Nebenwirkungen (Triefen, Sabbern, Schmatzen…) nein, Unterdosiertes, minimalisiert Zusammengefügtes ist zärtlich und trifft zielgenau den so genannten „G-Punkt“. Das G steht für Genuss. Jede Anleitung dafür ist willkommen. Dieses populär-wissenschaftliche Werk zum Thema „verfeinertes Genießen“ ist voll kompromissloser, zärtlich genau formulierter Worte. Ein Ausnahmewerk im Sumpf pseudo-trendiger Koch-Schundliteratur. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ich selbst Verfasser eines Standardwerkes zum Thema Kochen ohne Rezepte bin („Hectic Cuisine“, Hölker Verlag.)

Im Gegensatz zu den eleganten Anleitungen zum rezeptfreien feinen Kochen des Hans Gerlach schrieb ich mein Kochbuch quasi aus Notwehr. Aus eigener Erfahrung glaubte ich zu wissen, dass Vorköche uns absichtlich mit unverständlichen Maßeinheiten, exotischer Mangelware und endlosen Vorbereitungszeiten ins kulinarische Abseits – ja, in die pure Verzweiflung – treiben wollen. Ich stellte mir damals vor, dass ein eventueller Gast eine halbe Stunde zu früh in der Haustür stehen würde und der Privatjet mit dem Bananenblatt, in das ich den Monk-Fisch wickeln sollte, noch gar nicht in Tempelhof gelandet wäre. So erdachte ich „Grüne Heringe à la Potsdam“. Als Visionär lag ich – retrospektiv betrachtet – öfter daneben. Nie hätte ich zum Beispiel gedacht, dass Köche im Neuen Jahrtausend zu Popstars avancieren würden. Nach Jahrzehnten kulinarischer Ignoranz ist heutzutage selbst der simpel gestrickte Fernsehzuschauer zum hysterischen Gourmet geworden. Wir Deutschen – ich schließe mich natürlich mit ein – neigen eben zu Übertreibungen. In den Küchen begannen diese, soweit ich mich erinnere, Ende der achtziger Jahre. Verständlicherweise hatte der Neuzugang aus dem Osten Nachholbedarf an Fast Food wie Burger, Döner, Pizza und Sushi. Doch nun wäre es an der Zeit, dass unsere Nation sich wieder beruhigt. Sie hat nun in fast alle Töpfe der Welt geschaut und diese auch geleert. Ich bin zwar gegen jede Art von Prohibition, aber Überdosierungen sind ungesund und im Endeffekt asozial. Meine mit Crême fraiche angereicherten Mitmenschen verharren allzu oft bewegungsarm, lediglich schluckend, vor dem Fernseher um Marathon-Wettkämpfe im Hummerknacken, Austernöffnen und Weinsorten-Raten zu verfolgen. Vom „perfekten Dinner“ wird man entweder sinnlos hungrig oder appetitlos. Sendungen wie diese machen etwa so viel Sinn wie ein Soft-Porno. Man fühlt sich nicht eingeladen, mitzumachen und die Darsteller können alles besser und machen eine außerdem bessere Figur als man selbst.

Für eine behutsame Führung an den eigenen Herd sollten wir also dankbar sein. Das, was man unterlassen darf, ist ebenso wichtig wie das, was man unbedingt tun sollte. Technik und Know-how liegen vor dem Genuss wie der Pudding-Berg vor dem Schlaraffenland. Ohne Vorbereitung der Geschmacksnerven schmeckt Kaviar wie Salzhering und Champagner wie Hefe-Brause. Übertretungen aller Regeln, sogar ein bisschen Vulgarität, steht nur denen, die die Regeln kennen. Angeblich ist der Hungrige ja von jeder Frage nach „Benimm“ befreit. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ sagte Bertold Brecht. Aber als fühlender, aufgeklärter Mensch sollte man sich schon mal fragen, ob das, was man runterschluckt, nicht zu dessen Lebenszeit ein Recht auf ein paar Sekunden Respekt, Zärtlichkeit und Sonnenschein hatte. Sollten wir nicht lieben lernen, was wir uns in den Mund stecken? Man stelle sich den ganzen Akt einmal andersherum vor …“so schön ist dieser Mund nun auch wieder nicht, dass ich von ihm ganz verschlungen werden will“. In Hamburg der Mitte-neunziger war ich zum Dinner for four in einem Penthouse for one geladen. Der Gastgeber war seinerzeit schlank, ledig, vermögend. In seiner angelesenen Kochkunst hatte er sich selbst massiven Eitelkeitsattaken ausgeliefert. Der Esstisch aus Palisander mit Elfenbein-Einlage war mit weißem KPM-Geschirr gedeckt. Tischschmuck waren weiß-grünliche Frauenschuh-Orchideen. Ein floraler Hinweis auf den einzigen weiblichen Gast, der erwartet wurde. Der kam leicht verspätet. Schön, blond, vermögend, nervös. Der Gastgeber servierte eine Suppe „Crevette in ihrem Algen-Schaumbett, mit einem Hauch Zitronengras“ Dann kündigte er die folgenden Gänge an: „ … gleich kommt der Lachs auf seiner Haut gebraten mit Zuckerschoten, karamellisiert, dann das Milchlamm, dann … Die junge Frau unterbrach: „Du, ich bin seit gestern satt. Tut mir leid. Außerdem esse ich nichts mehr, was einen Schatten wirft. Das gilt auch für Gemüse. Hat jemand was dagegen, wenn ich mir eine „Line“ lege? Das hab ich zwar schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan, aber jetzt, ich meine, Du hast Dir Mühe gegeben, aber bei all den Morden, die Du aufgezählt hast, wird mir ohne das Pulver einfach jetzt schlecht…“ Die Essenz dieser Anekdote möchte ich erklären: Ungebremster Hedonismus wirkte schon damals überholt und belastet die Atmosphäre. Reduktion zum Maximum lautet die moderne Devise. Ein letzter Grund warum ich dieses Vorwort schreibe? Es geht mir um Luststeigerung durch Vereinfachung und eine neuere Definition von Erotik in der Küche. Im Überangebot dessen, was verdaulich ist oder nur scheint, möchte ich innehalten wie zum Tischgebet. Mores und Moden haben etwas gemeinsam: Sie gehen einem auf die Nerven, wenn alle sie befolgen. Eingeladen wäre ich gern bei jemandem, der seine Küche gelassen und ohne Eitelkeit betritt. Wie ein Bauer, der zum Erntedankfest vor dem Altar seiner Kirche tritt. Er hat genommen, er dankt. Er weiß, was er tut.